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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

Mein Senf zu 32 Jahren

Guten Morgen zusammen!

Was wünscht man sich eigentlich an einem Feiertag wie heute?
Einen fröhlichen Einheitstag?

Echt jetzt?
Dann muss es ja heute wohl wirklich Gründe zum feiern geben?
Also mal immer los damit, lasst Euch nicht aufhalten.

Trotzdem muss ich Euch auch sagen, dass ich aus verschiedensten Gründen die Euphorie um den 3.Oktober 1990 nicht teilen mag und deshalb heute nicht ganz so viele Gründe zum Feiern sehe:
Weder wegen der Art und Weise, wie sich dieses rasant zustande gekommene und lange Zeit völlig unerwartete Grossereignis der deutschen Geschichte in den darauf folgenden Jahren mit der „Abwicklung“ der alten DDR samt massiven Brüchen im Lebenslauf vieler Ihrer Bewohner entwickelt hat, noch wegen der schon vor dem Zusammenschluss deutlich wahrnehmbaren und nach dem Zusammenschluss mit den Ereignissen in Hoyerswerda und Lichtenhagen erstmals heftig eskalierenden (und inzwischen immer deutlicher und massiver zu Tage tretenden) rechten Gesinnung einiger ihrer ehemaligen Bewohner, die zunehmend auch zu einen negativen Veränderung der Stimmung in unserem ganzen Land führt.
Auch, was die Einheit des Landes angeht. Denn inzwischen scheinen sich deswegen doch einige Menschen zu wünschen, dass die Mauer wieder hochgezogen werden sollte.

Ob das nun also ein Grund zum unbeschwerten Feiern ist?
Ich weiss ja nicht.

Im Gegenteil:
Ich zumindest habe mir seither mehr als einmal gewünscht, dass es zum Zusammenschluss beider deutscher Staaten in der Form wie 1990 nicht gekommen wäre. Schliesslich hätte es auch andere Wege gegeben, wie sie hätten zusammenwachsen können – Wege, wie sie seinerzeit auch von vielen DDR-Bürgerrechtlern gewünscht wurden und mit etwas gutem Willen wohl auch gangbar gewesen wären:
Mit mehr Zeit zur echten Angleichung beider Systeme aneinander, mit mehr Überlegung, um einem Ausverkauf der wirtschaftlichen Werte und massiven Identitätsverlusten der DDR-Bürger vorzubeugen und mit einem gut durchdachten mehrstufigen Einigungs-Verfahren über eine definierte Anzahl von Jahren oder gar Jahrzehnten, an dem auch wir Bürger im ehemaligen Westen beteiligt worden wären.
Etwa in Form einen vorgeschalteten Bundestagswahl oder zumindest einer Volksbefragung….
Und vielleicht hätten am Ende des Prozesses dann auch zwei deutsche Staaten nebeneinander gestanden, beide als Teil westlicher Bündnisse und in gutnachbarschaftlichen Beziehungen verbunden – was einen späteren Zusammenschluss auf wirklicher Augenhöhe ja auch nicht ausgeschlossen hätte..
Davon wären Grenzöffnung , Reisefreiheit, Freizügigkeit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und viele andere Verbesserungen (wie etwa die West-Mark) für die DDR-Bevölkerung seit der Maueröffnung 1989 ja völlig unbenommen geblieben, wenn man es denn so gewollt hätte.

Wenn……

Aber es musste ja übers Knie gebrochen werden und es konnte nicht schnell genug gehen – der Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht und den Spitzen der westdeutschen Politik auch nicht, der Bürgerbeteiligung selbst in dieser wichtigen Frage ein Fremdwort war – und nun müssen wir alle zusammen seit 32 Jahren mit dem leben und versuchen, das Beste aus dem zu machen, was damals viel zu schnellschüssig innerhalb nur weniger Monate entstanden ist und was sich weiter daraus entwickelt hat.

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Ob das allerdings ein Grund für die alle Jahre wieder um den 3.Oktober herum ausbrechende Ostalgie auf allen Fernsehkanälen sein muss, ist dabei sicher eine ganz andere Frage.
Denn mittlerweile ist die Grenzöffnung schon beinahe so lange her, wie die DDR als Staat bestanden hat. Und deshalb sollte man sich vielleicht mal etwas weniger aufs Gestern als aufs Heute oder Morgen konzentrieren.
Denn sicher hat nicht alles mehr seinen Ursprung in diesem Staat, was heute jenseits der ehemaligen Grenze passiert, und manche negative Entwicklung sollte man tunlichst auch nicht mehr damit entschuldigen.
Den Rechtsruck mancher Zeitgenossen ganz rechts unten in der Republik etwa…
Sicher ist der nicht mehr alleine auf altem DDR-Mist gewachsen, sondern viel mehr auf zahlreichen Versäumnissen der jeweiligen (seinerzeit zum Teil aus dem Westen importierten) Landesfürsten (und ihrer Nachfolger) mit ihrer Politik nach Gutsherrenart und deren ausgeprägtem blinden Fleck auf dem rechten Auge.

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Aber man sollte auch nicht vergessen, was vorher war und untrennbar zu dieser Geschichte dazugehört:

Ein verlorener Krieg, ausgelöst von den politischen Vorläufern der heutigen Nazis, vielfältige Zerstörungen in unserem Land mit Millionen von Toten – und als Folge der verdienten Niederlage die Teilung des Landes durch die Sieger, aus der letztendlich zwei Republiken mit ganz unterschiedlichen politischen Systemen entstanden:

Auf der einen Seite entstand eine echte Demokratie mit einer (nicht unbedingt positiven) Entwicklung zum Hochkapitalismus und auf der anderem regierte der Sozialismus, der in vielen Dingen auch nicht anders war als das totalitäre System, das es vorher gab.
Nur das die Gestapo jetzt eben Stasi hiess und die Jugendorganisation FdJ, beide genauso indoktrinierend und ideologisch gefärbt unterwegs wie wie ihre Vorgänger im dritten Reich und damit auch Mittel zur Gleichschaltung und Unterdrückung. Und dazu ein pseudo-kommunistisches , nur von einer Partei dominiertes System mit mehr Mangel- als Planwirtschaft und stets gut versorgten Funktionären, was von extremen Ostaligikern auch heute noch als positiv betrachtet wird, obwohl es vom Grossteil der Bürger eher negativ erlebt wurde und viele Menschen sogar ihr Leben wagten, um diesem System zu entkommen. Fraglich also, ob da wirklich alles so wunderbar war, wie es heute von manchen Menschen verklärt wird?

Wobei die Demokratie im Westen eine Wiedervereinigung als Verfassungsziel formuliert hatte und die Parteikader im Osten mehr und mehr darauf bedacht war, sich davon abzugrenzen – bis hin zu Mauern, Stacheldraht und Schiessbefehl, mit denen mit allen Mitteln verhindert werden sollte, dass die eigenen Bürger in Massen ins andere Deutschland abwanderten.
Was zur Folge hatte, dass viele alte Verbindungen zwischen Ost und West abrissen oder zerstört wurden und auch heute bisweilen noch problembelastet sind….
Belastet durch ein Misstrauen, was zumindest im östlichen Teil unseres Landes bis 1989 durch das herrschende System zur staatlichen Kultur erhoben und damit tief in den Köpfen vieler Menschen verankert wurde.

Was mutmasslich bis heute ein Grund ist, dass es teilweise immer noch gravierende mentale und weltanschauliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Denn an grundsätzlich schlechteren Lebensumständen kann das inzwischen ja kaum noch liegen.

Aber diese Unterschiede werden auch nicht so leicht verschwinden, solange diese Mauern in den Köpfen bestehen bleiben, das damit verbundene Trauma von Generation zu Generation weiter gereicht wird und der Mythos von der immer guten und wunderschönen DDR (im Osten) und die althergebrachte Überheblichkeit (im Westen) nicht endlich vom Sockel gestossen werden – und solange nicht auch die letzten Ungleichheiten (etwa bei Löhnen und Renten) verschwunden sind…

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Aber darüber wird in der allgemeinen Feierlaune natürlich auch wieder nicht geredet….. genausowenig wie über die wirkliche Ursachen der Teilung – nämlich einen völlig übersteigerten Nationalismus als Grundlage eines totalitären Systemes (also genau das, wovon die rechten Dumpfbacken in beiden Teilen unseres Landes auch heute wieder träumen)

Und damit schliesst sich dann auch der Kreis zum morgen:
Statt zu feiern und sich über die wiedergewonnene „Einheit“ einen Kringel an den Bauch zu freuen, sollte man lieber den Finger in die offen Wunden legen und daran arbeiten, diese schnellstmöglich zu heilen.
Unser Land wird erst dann „ein Land“ sein, wenn „Ost“und „West“ egal ist, wenn auch der aufgeblasene Nationalismus keine Rolle mehr spielt und wenn Teilung und Wiedervereinigung allenfalls noch Daten im Geschichtsbuch sind…..

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Bleibt aber zum guten Schluss noch eine weitere Anmerkung:

Bei aller Kritik an den Einheitsfeierlichkeiten und der Art und Weise der Wiedervereinigung bin ich trotzdem froh, dass aus DDR und alter BRD inzwischen ein gemeinsamer Staat geworden ist, auch wenn der an vielen Stellen nach wie vor keinesfalls mit Perfektion glänzt.

Und ich bin auch froh, dass auch für uns aus dem Westen seit 32 Jahren Reisefreiheit herrscht in Teile unseres Landes, von denen ich als junger Mann nie gedacht hätte, sie je zu sehen zu bekommen.
Denn inzwischen haben wir ja nun wirklich jedes „neue“ Bundesland bereist, waren im Erzgebirge und auf Usedom, auf dem Darss und im Thüringer Wald, im Harz und im Oderbruch, haben viele wunderbare (und tatsächlich blühende) Landschaften entdeckt und (nicht nur dort) auch eine ganze Reihe wirklich netter Menschen kennengelernt, die wir sonst wohl nie getroffen hätten…

Das ist dann also auch für mich ein wenig Grund zum Feiern.
Nicht laut jubelnd und mit Korkenknallen, sondern ganz still und bescheiden…


In diesem Sinne:
Habt alle einen wunderbaren freien Montag – und bleibt gesund und behütet!
Wir lesen uns :bye:

Euer Wilhelm,

der froh ist, die Antwort auf die Frage vom Anfang halbwegs gut umschifft zu haben sich den Rest des Tages trotzdem lieber mit anderen Themen beschäftigen wird….


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