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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

Gedanken zum 9. November

Vorbemerkung:

Diesen  Beitrag hatte vor genau einem Jahr schon einmal in meinem alten Blog veröffentlicht, finde ihn aber immer noch so aktuell, dass ich ihn gerne nochmal in grösserem Rahmen zugänglich machen möchte:


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Anderthalb Kilometer

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Eigentlich wirkt die Szene recht friedlich, die uns dieses Bild zeigt:Ein Park, Bäume, ein See und dahinter, und – wie gerahmt in der Mitte des Bildes, knapp einen Kilometer entfernt – ein Stadtpanorama samt Kirchturm. Also durchaus ein Ort, an dem man gerne verweilt – und es fehlt eigentlich nur noch die Bank, auf der man Platz nehmen und die Aussicht geniessen könnte….

Doch ganz so idyllisch wie es scheinen mag ist der Ort nicht, an dem wir uns befinden:
Denn der See vor uns ist der Schwedt-See, mitten in Brandenburg und eine knappe Autostunde von Berlin entfernt gelegen – und das Städtchen heisst heute Fürstenberg an der Havel und war fast sieben Jahre lang einer der Orte eines der grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und damit ein Ziel der Deportationen, die heute vor genau 82 Jahren in der Hauptstadt ihren Anfang nahmen – in der Reichskristallnacht am 9. November 1938

Damals hiess dieser Ort noch Ravensbrück* – genau wie das KZ, vor dessen Krematorium wir gerade stehen.Wir müssten uns nur umdrehen und ein paar Schritte gehen, dann würden wir die Verbrennungsöfen sehen – heute eine Gedenkstätte an die Verbrechen, die nicht nur an diesem Ort geschehen sind. Steril, kalt – aber immer noch ein Ort des Grauens….
Wie überhaupt das ganze Gelände des KZs mit seinen noch bestehenden Gebäuden, die aus jeder Pore das Unrecht atmen, welches damals geschehen ist.Um so unverständlicher für mich, dass damals niemand etwas gewusst haben will.
Denn die anderthalb Kilometer Distanz zwischen dem Kirchturm der Stadtkirche und dem Krematorium sind ja keine weite Entfernung.
Die Häftlinge werden also die Glocken über den See hinweg gehört haben – und umgekehrt dürfte bei Ostwind auch der Rauch und der Gestank des Krematoriums seinen Weg bis in die Stadt gefunden haben.
Wohlmöglich auch die Schreie der gequälten Menschen.
Bekanntlich tragen ja auch menschliche Stimmen weit über das Wasser…
Und gesehen haben wird man den Rauch in der Stadt sicher genau so gut, wie man vom Krematorium aus den Kirchturm erkennen kann.

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Genau diese Diskrepanz ist es, die mich immer wieder beschäftigt, wenn ich einen der Orte des Holocaust besuche – egal, ob er Ravensbrück, Auschwitz, Buchenwald, Neuengamme oder Bergen-Belsen heisst:
Denn die Verbrechen dieser dunklen Zeit geschahen ja unter den Augen der Menschen, ganz in ihrer Nähe:
Angefangen mit den Diskriminierungen der Juden in den frühen Jahren der Hitlerzeit, über die brennenden Synagogen und zerstörten Geschäfte der Kristallnacht bis hin zu den Deportationen und der Vernichtung der späteren Jahre…..
All das will niemand bemerkt haben?

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Und wie ist es heute?
Würde so etwas unbemerkt bleiben in einer Gesellschaft, in der es wieder hoffähig wird, gegen Flüchtlinge, Ausländer, ja sogar Juden zu hetzten? In der nach einem kurzen Aufschrei schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wird wie nach dem Amoklauf in Halle vor einen Jahr?
Oder würde bewusst weg geguckt, weil es niemanden interessiert?
Genau so wenig wie das Elend der Obdachlosen und der Flüchtlinge oder der alltägliche Rassismus, der immer mehr Raum gewinnt?

Nein, dass darf nicht passieren!

Deshalb ist es auch so wichtig, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und an das zu erinnern, was damals passiert ist:
Mit Stolpersteinen sowieso, wie diese in unserem Stadtteil, mit Denkmälern und Gedenkstätten wie in Ravensbrück,aber auch indem man immer wieder darüber schreibt oder spricht.
Selbst wenn inzwischen ein grosser Teil unserer Bevölkerung denkt, das sei Vergangenheit und die solle man endlich ruhen lassen….

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*)Mehr Bilder aus Ravensbrück in unserem Bilderblog
(Das Passwort dazu gibt es gerne auf Anfrage ->klick<-)


Dennoch:
Euch allen einen schönen Tag und einen guten Wochenstart.
Bleib gesund und bleibt behütet

Wir lesen uns


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- 12 Bemerkungen zu “Gedanken zum 9. November

  1. Es passiert doch schon wieder, das Wegschauen, Schönreden und Leugnen. Man muss sich doch nur mal genauer anschauen, wie sich allein Auftreten und Sprachgebrauch in der Politik in den letzten Jahren zum Negativen hin verändert haben. Dank des Einzugs der Blaunen in sämtliche Länderparlamente und vor allem in den Bundestag sind braun eingefärbte Ansichten und Äußerungen erneut geradezu „hoffähig“ geworden. Man muss sich nur mal vor Augen halten, wie sehr sich ein Bundesinnenminister öffentlich darüber geradezu gefreut hat, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Flüchtlinge abgeschoben wurden, dass er sich beharrlich weigert, rechtsextreme Tendenzen innerhalb der Polizei untersuchen zu lassen, und dann weiß man, wohin die Reise geht. Anlässlich solcher Ausschreitungen wie am Samstag bei der „Quer“denker-Demo reagieren die Verantwortlichen mit „Entsetzen“, „Betroffenheit“ und „Fassungslosigkeit“, und tönen vollmundig davon, „die Ereignisse genauestens aufzuarbeiten“ und „dafür Sorge zu tragen, dass so etwas nicht wieder passiert“. Solche Äußerungen kommen mittlerweile bei jedem rechtsradikalen Anschlag, bei jedem braunen, randalierenden Mob ganz automatisch, und meiner Meinung nach können sich unsere Volks(ver)treterInnen diese in den A*** schieben. Denn zum Besseren ändern wird sich nichts. Es werden Reden gedroschen, doch die Geschwindigkeit, in der bezüglich rechter Ausschreitungen gehandelt wird, lässt die sprichwörtliche Fliege im Leim im Vergleich dazu mit geradezu atemberaubendem Tempo agieren… Ich bin ganz sicher, dass die nächste „Quer“denker-Demo ebenfalls zugelassen wird, und dann genauso, wenn nicht sogar schlimmer verlaufen wird als in Leipzig. Den Rechten wird zunehmend mehr Spielraum gegeben, ob aus Ohnmacht oder Berechnung? Auch da ist meiner Meinung nach ganz offenkundig, wohin die Reise wieder geht…

    1. Ich weis, Sophia.
      dennoch habe ich ihn bewusst ( als nicht gekennzeichnetes Zitat) verwendet, weil er vielen Menschen geläufiger ist als das etwas sperrige Wort „Reichsprogromnacht“

  2. Lieber Wilhelm, auch ich kann einfach nur DANKE sagen, denn die Erinnerung an solche Greueltaten darf nicht unter den Tisch gewischt werden. Wie viele beziehen sich darauf, dass sie zu dieser Zeit nicht gelebt haben und deswegen „unschuldig“ sind. Ich habe damals auch noch nicht gelebt, halte aber deswegen in der heutigen Zeit meine Augen bewusst offen, was alles schon wieder für Schweinereien, Verbrechen und Morde passieren – gerichtet gegen Andersdenkende und gen Leute aus anderen Kulturkreisen.

  3. Danke für den Beitrag. Ich lesen gerade „Die Frauen von Birkenau“. Harter „Stoff“ und da kann mir keiner sagen, dass man das nicht mitbekommen hat.

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