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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

Das Sonntagszitat 03/22

Aller guten Dings sind Drei – und das gilt nun auch für den Inhalt meines Sonntagszitates, welches sich nochmal (und zum vorläufig letzten Mal) mit dem Thema „Heimat“ beschäftigt – diesmal unter dem Aspekt eines Verlustes und einer möglichen Wiederkehr:

„… das erfuhr ich schon auf dem Schiff, auf der winterlichen Ostsee, und zurückblickend zu dem eingetrübten Horizont spürte ich: es gibt keine Rückkehr, es gibt überhaupt für keinen eine Rückkehr zu dem, was einmal war, selbst wenn wir, durch Wunder und ein genaues Gedächtnis geleitet, die zerrissenen Fäden wieder aufnehmen und sie nur kurz zusammenknoten:
Auf einmal mußte ich damit rechnen, daß auch unsere Erinnerungen und Beziehungen altern und aus der Welt kommen, und daß alles, was uns im Frühling unseres Aufbruchs soviel bedeutete, offenbar nur noch einen Wert für uns selbst darstellte, nicht aber für die, die wir mit unserer Nachfolge betrauen wollten.“

(aus „Heimatmuseum: Roman“ von Siegfried Lenz)

In der Tat ist das wohl genau das Thema, welches meinen Grossvater (und auch meine Mutter) nach der Flucht aus Pommern Anfang 1945 Zeit ihres Lebens beschäftigt hat – ihn noch mehr als sie – und damit in unserer Familie lange Zeit eine zentrale Rolle spielte:
So blieb „in der Zeit danach“ vieles im Leben meines Grossvaters provisorisch und er ist auch nirgendwo mehr richtig angekommen (im Sinne von sesshaft geworden), sondern lebte seither wechselweise bei seinen Kindern, schwankend zwischen der Trauer um seinen Verlust und der Hoffnung, doch irgendwann zum Ausgangspunkt seiner Flucht zurückkehren zu können. Was natürlich auch Auswirkungen auf den Rest der Familie hatte – bis hin dazu, dass auch meine Mutter sich vehement dagegen wehrte, in ein eigenes Haus zu ziehen, als diese Möglichkeit bestanden hätte.

Eine besondere Cäsur in diesem Zusammenhang gab es dann Anfang der 70er Jahre nach der Ratifizierung der Ostverträge und der damit verbundenen Festschreibung der nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen – für meinen Grossvater „ein Verrat am deutschen Volk“, für meinen Vater „ein Fortschritt, der zum Frieden führt“ – verbunden mit heftigen Turbulenzen innerhalb unserer Familie, die natürlich auch Auswirkungen auf uns Kinder hatten.
War es doch unser Grossvater, der uns mit seinen Geschichten aus Pommern auch immer wieder seine Sehnsucht „eingeimpft“ hatte bis hin zu dem Versprechen, dass wir „das alles ja mal erben würden“, was er auch 25 Jahre nach dem Krieg immer noch als ein Eigentum betrachtete.

Mit nachhaltigen Folgen.
Denn Pommern und das Dorf meines Grossvaters wurden damit im Lauf der Zeit zu einem Märchenland für mich, zu einem Sehnsuchtsort mit zeitweise riesiger Anziehungskraft – obschon ich als junger Erwachsener und mit zunehmendem Wissen über das dritte Reich und die Rolle meines Grossvaters als Mitläufer und kleinem Bonzen des Nazi-Regimes mich auch mehr und mehr von vielen seiner Gedanken distanzieren konnte.

Was aber blieb (und mich lange beschäftigt hat) ist das, was in der Fachliteratur als „vererbtes Trauma“ bezeichnet wird – sehr treffend beschrieben in diesem Artikel – und das Gefühl, eine Lücke in meinem Leben füllen zu müssen, teils lesend in Büchern, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, teils mit Recherchen im Netz und schlussendlich auch gipfelnd in einem starken Wunsch nach einem Besuch im Heimatdorf meiner Mutter und meines Grossvaters.

Insofern ist für mich auch gut nachvollziehbar, was Lenz im zweiten Teil des Zitates beschreibt:

“ Weißt du, damals begann ich mich zu fragen, ob der Schmerz über den Verlust vererbbar ist, ob Gefühle, Reize und Aufgaben dieser Art überhaupt weitergegeben werden können – da es doch nur eine Frage der Zeit ist, wann eine leibhaftige Erfahrung sich aufhebt und zur Fata Morgana wird, zitternd im Glast, unerreichbar.“

(aus „Heimatmuseum: Roman“ von Siegfried Lenz)

Und tatsächlich hat dieser Besuch ja auch stattgefunden – vor drei Jahren, als wir auf dem Rückweg aus Danzig auch in Nove Laski (früher Neu Laatzig) waren und sogar freundlich eingeladen wurden, das ehemalige Haus meines Grossvaters auch von innen zu besichtigen…..
Ein heilsamer Besuch, der mich mit vielem versöhnt hat, was vorher unbewusst immer wieder in mir waberte.
Denn nun ist aus dem Märchenland und Sehnsuchtsort meiner Kindheit ein realer Ort geworden, der sich als Teil meiner familiären Geschichte zwar irgendwie „heimatlich“ für mich anfühlt, aber als Zwischenstation unserer Polenreise auch alle Überhöhung verloren hat, die ich vorher damit verbunden hatte…..

Und das ist einfach gut so.


Habt alle noch einen schönen Restsonntag und bleibt gesund und behütet!
Wir lesen uns :bye:

(der trotzdem sicher nochmal über dieses Thema schreiben wird)


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