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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

Zitat 10/23: Halbe Kinder

Guten Morgen am Freitagmorgen!

Ein neuer Tag beginnt – bei uns vermutlich ein friedlicher Tag mit angenehmem Frühlingswetter. Für viele in unserem Land auch ein freier und womöglich völlig sorgenfreier Tag, so sie noch arbeiten und einen Brückentag genommen haben, um ein verlängertes Wochenende zu bekommen.
Und auch sonst gibt es eigentlich kaum einen Grund zu klagen, so gut, wie es den meisten von uns geht.
Schliesslich leben wir in Frieden und haben auch fast alle unser Auskommen. Die einen mehr, die anderen weniger…

Doch so ist es leider nicht über all auf der Welt.
Denn nur ein paar tausend Kilometer von uns entfernt, auch in Europa und an seinen Grenzen sieht das ja leider ganz anders aus:
Trockenheit in Spanien, Überschwemmungen in Italien, sterbende Menschen auf dem Mittelmeer auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Gewalt in ihren Ländern – und Krieg auch in Europa, in der Ukraine, wo seit über einem Jahr Menschen sterben, weil ein durchgeknallter Despot seine Grossmacht-Fantasien befriedigen möchte….
Und überall sind auch Menschen, deren Leben nachhaltig durch diese Ereignisse beeinflusst werden, obschon sie selbst dafür nichts können – wie Igor aus Sankt Petersburg, über den Heinz-Rudoph Kunze gerade ein beeindruckendes Lied geschrieben hat:

Beeindruckend, weil es keinen strahlenden Helden besingt, sondern beschreibt, was mit einem jungen Mann, fast noch einem halben Kind passieren kann, der als einfacher kleiner Soldat in die Mühlen der grossen Weltgeschichte gerät und gegen seinen Willen und aus Angst ums eigene Leben zum Mörder geworden ist, weil man ihm das so befohlen hat….

Beeindruckend für mich auch deshalb, weil ich im Lauf meines Lebens vielen alten Männern begegnet bin – auch meinem Vater – denen es als jungen Männern und halben Kindern während des letzten Krieges ähnlich ging, wenn sie auch das Glück hatten, deswegen nicht vor Gericht gestellt zu werden und überlebt, ein „Leben danach“ gehabt zu zu haben.
Dennoch hatten sie alle ihrer Traumata aus dieser Zeit, ihre blinden Flecken und ihre Erlebnisse, über die sie nicht reden wollten oder konnten. Was vermutlich auch nicht immer leichter war, als wie Igor vor Gericht gestellt und verurteilt zu werden…
Und manch einer hat genauso daran gelitten, als ob er zu lebenslanger Haft verurteilt worden wäre. Dafür kenne ich einige Beispiele.

Deshalb ist die Frage auch berechtigt, die Kunze im Refrain an den russischen Despoten – sicher auch stellvertretend für alle anderen Kriegstreiber – stellt:

Wie geht es Ihnen, Herr Putin?
Wie schlafen Sie bei Nacht?
Haben Sie ein einziges Mal
An solche Jungs gedacht?

Wie geht es Ihnen, Herr Putin?
Würden Sie sich trauen,
Igor aus Sankt Petersburg
Ins Gesicht zu schaun?

Heinz Rudolph Kunze – Igor

Denn hinter allem , was sich die grossen Strategen am grünen Tisch zwischen sicheren Bunkerwänden ausdenken, wenn sie Einheiten hin und her schieben und Taktiken planen, stecken auch immer Menschen wie Igor, die genauso zu Opfern werden wie die, die sie angreifen sollen.
Menschen, die in Gewissenkonflikte kommen und Dinge tun müssen, die sie nie tun wollten.
Menschen – auch halbe Kinder wie Igor – die lebenslang an ihren Taten und ihren Erlebnissen tragen zu tragen haben werden, während die Planer vom grünen Tisch sich mit Orden behängen lassen und sich schon die nächsten Schachzüge ausmalen, bei denen es auf einen Igor mehr oder weniger nicht ankommt….

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Ich gebe zu: Es hat mich sehr getroffen, dieses Lied.

Weil es mir mal wieder klar macht, wieviel Glück Menschen meiner Generation in unserem Land hatten, nie im Leben in solch eine Situation wie Igor gebracht zu werden und nicht – wie unsere Väter mit fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahren – in den Krieg gehen zu müssen, weil die grosse Politik uns zu zweifelhaften Helden machen wollte, um für Ziele zu kämpfen, die nicht unsere Ziele sind.
Ich bin dankbar, dass ich nein dazu sagen durfte und frei entscheiden konnte, ob ich im Fall des Falles dafür zur Verfügung stehen würde.
Und ich bin dankbar, dass der Fall des Falles (der grosse Krieg, der in unserer jungen Jahren immer zu drohen schien) Zeit meines Lebens nie eingetreten ist und wir in Frieden leben konnten.
Was auch hoffentlich so bleibt, selbst wenn der Kanonendonner anscheinend immer näher rückt.

Denn auch, wenn ich als alter Mann in diesem Leben kein Gewehr mehr in die Hand nehmen muss – meine Söhne – unser aller Kinder – müssten. Und ich wünsche mir nichts mehr, als dass ihnen das erspart bleibt…..


Und dennoch:
Habt einen angenehmen und friedlichen Tag – und bleibt auch heute gesund und behütet!
Wir lesen uns :bye:

Euer Wilhelm,

der gerade mal wieder ziemlich nachdenklich ist…..


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