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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

Andre, die das Land nicht so sehr liebten

Guten Tag Euch Allen!

Bei meiner „stillen Beschäftigung“ am Schreibtisch sind ja immer fünf Dinge nötig, damit ich mich gut konzentrieren und mein Werk gute Fortschritte machen kann:

Ein gut funktionierender Computer, ein, besser: zwei Monitor(e),
reichlich schwarzer Kaffee, genug Kippen und Musik!

Wobei ich inzwischen alle Radioprogramme gar nicht mehr dafür nutze (Radio höre ich nur noch im Auto), weil mir das Gesabbel der Moderatoren und die seichte Musikprogramm nerven, sondern – entweder gezielt ausgewählt oder viel öfter per Zufalls-Playlist – das nutze, was mein Lieblings-Streaming-Dienst mir anbieten kann. Und tatsächlich scheinen mich die Algorithmen dieser Plattform inzwischen so gut zu kennen, dass die Zufalls-Listen meinen Musikgeschmack mit wenigen Ausreissern eigentlich immer sehr gut treffen, wie etwa auch in den letzten Tagen, wo ich mal wider verstärkt auf dem Liedermachertrip bin.

So ist auch nicht weiter verwunderlich, dass auch dieser alte Bekannte irgendwann darauf auftauchte, an dem ich dann erst mal hängen geblieben bin:

Zupfgeigenhansel – Andre, die das Land nicht so sehr liebten

Zunächst mit dem Gedanken: „Ach schön, mal wieder Zupfgeigenhansel“ (darüber hatte ich vor einigen Wochen ja schon mal hier geschrieben) – und dann plötzlich mit der Frage im Hinterkopf, was die da eigentlich singen?
Leider ist der Text in der Aufnahme ja nicht so sonderlich gut zu verstehen.
Und ich gebe zu – obwohl ich Zupfgeigenhansel und auch dieses Lied schon sehr lange kenne -, dass mich der bisher auch nie wirklich interessiert hat, weil ich diesen Titel alleine schon wegen seiner Musik immer sehr mochte.

Doch diesmal war das halt anders.

Und so habe ich mich mal auf die Suche gemacht.
Zuerst nach dem Text und, nachdem ich darin über diese Zeilen gestolpert war

Keine Nacht hab‘ ich seither geschlafen
Und es ist mir mehr als weh zumut –
Viele Wochen sind seither verstrichen
Alle Kraft ist längst aus mir gewichen
Und ich fühl‘, dass ich daran verblut‘!

Und doch müsst ich mich von hinnen heben –
Sei’s auch nur zu bleiben, was ich war
Nimmer kann ich, wo ich bin, gedeihen
Draußen braucht ich wahrlich nicht zu schreien
Denn mein leises Wort war immer wahr!

deutschelyrik.de

auch nach dem Autor, weil mich interessierte, warum er wohl diese Zeilen geschrieben hat?
Denn nur aus Weltschmerz – so mein Gefühl – hatte der Autor, der östereichische Jude und Sozialdemokrat Theodor Kramer, seine Worte wohl nicht so gesetzt.
Und mein Gefühl hat mich auch nicht getrogen, wie ein Zitat aus Biogaphie auf Wikipedia zeigt:

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde Kramer als Jude und Sozialdemokrat ein Arbeits- und Berufsverbot auferlegt. Sämtliche seiner Schriften kamen auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Aufgrund dieser Situation und nach erfolglosen Bemühungen, das Land mit einer Ausreisegenehmigung zu verlassen, überlebte Kramer 1938 seine versuchte Selbsttötung.

Denn dieser Text dürfte genau zu dieser Zeit entstanden sein, in Verzweiflung über eine ausweglose Situation und ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft.

Theodor Kramer. © Archiv der TKG

Immerhin, einige Zeit später konnte Kramer dann doch noch nach England emigrieren und hat so Krieg und Holocaust überlebt… wenn wohl auch zeitlebens immer wieder von Zweifeln geplagt, ob die Flucht vor den Nazis der richtige Weg gewesen ist. (wie ich übereinstimmend in mehreren Quellen nachlesen konnte.)

Womit sich für mich der Bogen dann plötzlich wieder bis ins heute spannt.
Zum einen in Gedanken an die Menschen, die auch in unseren Tagen aus Angst um ihr Leben unfreiwlllig auf der Flucht sind – zum anderen aber auch bei mir selbst und der Frage, was ich wohl in der Situation gemacht hätte….

Bleiben oder gehen?
Ich weiss es nicht.
Aber ich fürchte, die selben Zweifel wie Theodor Kramer würden mich wohl irgendwann auch plagen, wenn ich wirklich vor diese Frage gestellt würde….


Dennoch:
Habt alle ein feines Wochenende und bleibt gesund und behütet!
Wir lesen uns :bye:

Euer Wilhelm,

gerade etwas nachdenklich….


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- 6 Bemerkungen zu “Andre, die das Land nicht so sehr liebten

  1. Ich vermute mal, ich würde gehen, vor allem, wenn es keine Grundlage mehr für einen Broterwerb gibt. Viele, die geflohen sind, haben sich dann ja auch im Ausland gegen Nazi-Deutschland engagiert. Ich glaube, ich wäre nicht mutig genug, mich permanent zu verstecken und mich permanent in Lebensgefahr zu wissen.
    Aber wissen, was ich tun würde, werde ich hoffentlich nie. Bedenklich finde ich, dass Juden sich hier wieder unsicher fühlen. Einer sagte neulich, er würde sich im Krieg in Israel sicherer fühlen, als hier in Deutschland.

    1. Ja, die Juden in Deutschland befinden sich ja auch gerade in keiner sehr glücklichen Lage, nachdem der Krieg in Palästina den Judenhass vor allem unter den Flüchtliglingen aus muslimisch geprägten Ländern immer mehr anheizt – zusätzlich zu dem, was aus rechten Kreisen kommend hier ohnehin zum Grundrauschen gehört.
      Und ich denke, auch da stellt sich die Frage, ob bleiben oder gehen, wenn auch unter anderen Voraussetzungen als damals und zumindest mit der Sicherheit des Rückhaltes aus der Politik

  2. Gute Frage. Gehe ich, bin ich feige, um mich der Realität zu stellen. Bleibe ich, bin ich zu feige, um mich der Realität zu stellen. Egal, wie man das Blatt wendet, man muss mit der Realität klar kommen, sonst geht man kaputt. Ich entscheide mich – im Moment – fürs bleiben und versuche im kleinen etwas zu tun. Ist nicht viel, aber gar nichts tun, ist auch keine Lösung
    Es eskaliert an allen Ecken und Enden. Bevor das mit Israel passierte, war hier in Hannover ein großer Aufschrei der Sinti- und Roma-Gemeinde. Egal wo man hinguckt, man greift entweder in die braune Masse oder ins Wespennest

    1. Du schreibst ziemlich genau das, was mir auch schon seit Tagen durch den Kopf geht.

      Und gleichzeitig wächst von Tag zu Tag mein Traum von der einsamen Insel ohne Verbindung zur Aussenwelt, weil es mir immer schwerer fällt, das alles zu verarbeiten, was zur Zeit auf uns einprasselt – und über alle Kanäle aufgezwungen wird, selbst wenn wir versuchen, uns dagegen abzuschotten….

      1. Mittlerweile habe ich mir sogar abgewöhnt, das Radio anzumachen. Sonst immer gerne, aber morgens brauche ich nicht zu hören, was es für Gräueltaten wieder des Nachts gegeben hat.

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