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„Ja, ich sehe es ein, zweierlei ist möglich, man kann entweder dieses thun oder jenes;
meine aufrichtige Meinung und mein freundschaftlicher Rat ist der:
thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen.“
Søren Kierkegaard

(Unsortiere) Gedanken zum Shut-Down

Zu erwarten war das ja, was uns gestern Abend als Realität für die nächsten Wochen präsentiert wurde:
Ein erneuter Shut-Down für viele Branchen, verschärfte Kontaktsperren und vieles mehr werden  also mal wieder für mindestens vier Wochen unseren Alltag bestimmen. Grob zusammen gefasst auch mit dem Argument:

„Wenn wir uns jetzt zusammen reissen, dann können wir vielleicht Weihnachten ohne grosse Einschränkungen feiern“

Dazu auch noch andere Argumente, hinter die wohl – genau so wie hinter die sentimental gefärbte Aussicht auf eine weniger beschränkte Weihnachtszeit – einige Fragezeichen zu setzen sind, beispielsweise, was die Beschränkungen für Gastronomie, Kinos und Theater angeht, soweit das nicht Szenetreffs oder Hotspots (jugendlichen) Leichtsinns sind.

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Das wichtigste Argument –  und mit einem Ausrufungszeichen zu versehen – ist wohl die zunehmende Überbelastung der Krankenhäuser und die noch unkonkrete Notwendigkeit, dass schlimmstenfalls wegen fehlender personeller Ressourcen die Triage angewendet werden müsste, also eine Auswahl getroffen wird, wer noch behandelt werden kann und wer diese Chance nicht mehr bekommt.
Ein Auswahlverfahren also, wie es hier in unserem Land bisher nur bei schlimmsten Katastrophen (wie beispielweise beim Flugtagunglück in Ramstein 1988 mit einem Massenanfall von schwerst Brandverletzten) angewendet wurde, weil nicht schnell genug  genügend medizinische Ressourcen zu Verfügung standen – aber noch nie in Situationen, die vorhersehbar waren.
Ein Auswahlverfahren, das neben den fatalen Folgen für viele Verletzte auch traumatische Auswirkungen auf die hatte, die damals zu entscheiden hatten, wer behandelt werden kann und wer sterben muss – mit Spätwirkungen bis in die heutige Zeit hinein, wie eine Dokumentation zeigt, die gestern Abend im NDR-Fernsehen lief.
Obschon es für dieses Verfahren in Notsituationen relativ eindeutige Kriterien gibt, bedeutet es nämlich für die Helfenden beinahe die grösste Belastung, die man sich vorstellen kann – zumal es kaum eine Form der Vorbereitung darauf gibt ausser den festgelegten Handlungsabläufen. Denn niemand weiss vorab, welche Gedanken  und Überlegungen im Nachhinein eine Rolle spielen werden oder wie man  ganz konkret damit weiterleben kann, über Leben und Tod eines ( vieler) Menschen entschieden zu haben. Das Trauma bleibt in den meisten Fällen, auch heute noch, wo es ein gutes Netz der Notfallseelsorge und der Nachbetreuung gibt….

Insofern finde ich es sehr verständlich, dass Ärzte und Pflegepersonal sich um dieses Thema gerade viele Gedanken machen, auch unter dem Aspekt, dass ich mich im Rahmen meiner  Ausbildung auch damit beschäftigen musste und die eiskalten  Kriterien für Notfallsituationen kenne.
Da bleibt für Empathie kein Platz mehr, wenn es soweit ist.
Und (das kommt als weiterer Aspekt hinzu): Diese Kriterien waren nie für das gedacht, was jetzt vorhersehbar ist, auch wenn sie notgedrungen beispielsweise in Italien schon darauf angewendet wurden, als der Corona-bedingte Patientenansturm nicht mehr zu bewältigen war. Weshalb wohl hinter den Kulissen die Ethik-Räte gerade in Dauersitzungen tagen und an neuen Definitionen arbeiten.

Definitionen, die dennoch niemanden entlasten werden, der ggf. vor der konkreten Entscheidung über Leben und Tod eines anderen Menschen steht:
Ich kann mir kaum vorstellen, dass da einer dabei ist, der sich nachher bequem zurück lehnt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt mit dem Wissen, dass er nach den geltenden Ethik-Regeln alles richtig gemacht habe. Im Gegenteil wird da für die meisten wohl eher für sehr lange Zeit die Frage im Raum stehen, ob man nicht doch hätte anders entscheiden können oder gar müssen….selbst wenn man nach offizieller Lesart alles richtig gemacht hat.
Denn schlussendlich bleibt nach einer solchen Entscheidung doch jeder mit seinem Gewissen für sich alleine – auch wenn es unter den gegebenen Umständen und in der Aussensicht tausend mal richtig war, was er entschieden hat.

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Dagegen –  und gegen die Vielzahl von zusätzlichen Toten, die es ohne konsequenten Shut-Down möglicherweise geben würde – verblasst für mich gerade die als Argument missbrauchte Södersche Verheissung  auf eine vielleicht(!) gewohnt anheimelnde Weihnachtszeit (mit Weihnachtmärkten, Kirchgang, Geschenken und Familienfeiern?) , auch wenn ich zugeben muss, dass meine Sichtweise vielleicht sehr stark aus der Perspektive  meines medizinischen Berufes heraus geprägt ist:

Denn neben den  rasant  steigenden Corona-Zahlen sehe ich auch immer meine Kollegen in den Krankenhäusern, wohl wissend um die Belastungen, denen sie jetzt schon ausgesetzt sind (und mit einer düsteren Ahnung, was in den nächsten Wochen auf sie zu kommen könnte…. ohne dass ich jetzt Schwarz-Malerei betreiben will) Wenn es vorgeblich schon um Weihnachten geht, haben die ja wohl das gleiche Recht auf ruhige Tage wie jeder andere, obwohl viele von denen (also fast alle) durchaus daran gewöhnt sind, auch an Feiertagen zu arbeiten, welche schon zu normalen Zeiten heftige Arbeitsbelastungen mit sich bringen:

Weihnachten ist nicht beschaulich, war es nie und wird es nie sein.
Jedenfalls nicht, wenn man im Krankenhaus arbeitet und einfach funktionieren muss…..

Das wissen alle, die im Gesundheitssystem arbeiten, auch ohne Corona – und ohne drohende, beinahe untragbare Entscheidungen am Horizont.
Ähnliches gilt – unter anderen Voraussetzungen – im Übrigen auch für die Kollegen in Altenheimen und in der ambulanten Pflege, wo es zwar nicht um Leben und Tod geht, aber von denen gerade in der Weihnachtszeit neben dem rein pflegerischen Tun auch immer eine Menge an zusätzlicher Empathie verlangt wird, um Menschen aufzufangen, denen es mit ihrer Einsamkeit nicht gut geht.
Dieses Jahr sicher noch um Einiges mehr, als es sonst schon üblich war….

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Deshalb halte ich den Shut-Down für zumindest nötig  (wenn nicht sogar für überfällig) und hoffe sehr, dass er wirklich die erwünschte Wirkung zeigt, damit das alles nicht noch schlimmer wird, als es ohnehin schon ist…. auch wenn es bei anderer Sichtweise sicher tausend gute Argumente geben mag, die dagegen sprechen:
Wirtschaftliche Not beispielsweise, die daraus entsteht, trotz der versprochenen Massnahmen, die diese abfangen sollen.
Auch darauf wird zu achten sein und die davon betroffenen Menschen (nicht Branchen) brauchen  unser aller Solidarität – nicht nur, in dem wir uns an die verordneten Massnahmen halten.

Nicht zu vergessen:
Weihnachten kann trotzdem schön werden, auch wenn es anders sein wird, als wir uns das je vorgestellt haben. Das kostet uns nichts ausser ein wenig Phantasie….


In diesem Sinne:
Bleibt gesund und bleibt behütet in diesen schwierigen Zeiten.
Wir lesen uns,
Der Wilhelm.


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